Donnerstag, 15. November 2007
Seit Tagen (gefühlten Wochen) geht es drunter und drüber, privat wie beruflich. Und nehme ich mich des einen an, kommt das andere dazwischen, und ich muss abbrechen. Vorgestern brach ich im Wohnzimmer heulend zusammen. Gestern brauchte ich den ganzen Tag, um wieder auf die Beine zu kommen. Heute kämpfe ich weiter gegen Aufträge, Termine, missmutige Vorgesetzte, Telefonterror und ungebetene Geschenke. Noch so eine Woche, dann gehe ich freiwillig in die Klapsmühle.




Donnerstag, 1. November 2007
Gestern Abend gab S. einen Halloween-Party. Seine Einladung war wie üblich kurz: „Heute Abend um acht bei mir.“ „Wie bitte?“ „Halloween-Party. Komm verkleidet.“ *klick*

Nicht nur, dass ich selbst für den Alltag zu wenige Sachen im Kleiderschrank habe; ein Kostüm trug ich zuletzt zu Fasching vor fünf oder sechs Jahren. Ich zog also das schwärzeste Kleid an, das ich finden konnte, und benutzte das wildeste Make-up, das ich besitze, und machte mich auf den Weg zur Party.

Anfangs fühlte ich mich etwas hilflos, denn ich kannte mich in S.'s Freundeskreis nun gar nicht aus. So viele neue Namen, die ich mir im Leben nicht merken kann. Nachdem mich S. seinen meist männlichen Bekannten mit den Worten „das ist Chantal - die ist gerade frei“ vorgestellt hatte, war für reichlich Konversation über den ganzen Abend gesorgt.

Ich hatte wenig Gelegenheit, mich mit S. zu unterhalten. Erst als gegen zwei die ersten Gäste den Hort des Bösen verließen, konnte ich mich zu ihm aufs Sofa (mein Einwochen-Sofa) setzen. „Hast du dich gut amüsiert?“, fragte er. Ich nickte. Und als er merkte, wie müde ich war, zog er mich auf seinen Schoß und begann, mir die Schultern zu massieren. Ach, könnte er doch jeden Tag eine Party machen. Nur ohne Gäste.

Die Entspannung wich, als F. sich zu uns setzte. F. hatte mir schon früh am Abend Hallo gesagt und war seit dem ständig um mich herumgeschlichen. Er war an sich kein unsympathischer Mensch. Mit seinen 24 Jahren erschien er mir noch etwas jung und wild, obwohl er sich offensichtlich bemühte, reif und gebildet zu wirken. Wie ich später erfahren sollte, hatte er schon immer Probleme im Umgang mit Frauen gehabt und war deshalb Dauer-Single.

Das wunderte mich wenig, denn zu späterer Stunde begann er, auch mir mit seiner Aufdringlichkeit auf die Nerven zu gehen. Er hatte mir bereits Telefon- und ICQ-Nummer entlockt und fand es nun urkomisch, mir quer durch den Raum SMS Nachrichten zu schicken, wenn ich mich mit anderen Gästen unterhielt.

Als er mir anbot, mich nach Hause zu bringen, wurde es mir dann zu viel. Ich bat S., F. für eine Weile abzulenken und verabschiedete mich kurz. Dann floh ich aus seiner Wohnung. Ich fand es schon merkwürdig, dass ich mich mitten in der Nacht auf der Straße sicherer fühlte als in einem Raum zusammen mit F. Doch das Gefühl wehrte nicht lange, denn auf halber Strecke klingelte mein Telefon. Ich nahm ab, obwohl ich selbst ohne aufs Display zu sehen wusste, wer da anrief.

„Wo bist du? Ich dachte, du wolltest mit mir mitfahren?“ Ich stammelte etwas von „vergessen“ und „furchtbar müde“ und brach das Gespräch mit einem „Sorry“ ab. Wie „sorry“ mir das war, merkte ich vor einer Stunde, als das Telefon läutete ...




Dienstag, 30. Oktober 2007
Nach meiner Arbeitszeit setze ich mich öfter mal ins Café, anstatt gleich nach Hause zu fahren. Eigentlich gibt es in dieser Stadt eine große Auswahl an Cafés und Kneipen, so dass ich jedes Mal in ein anderes Lokal gehen könnte, aber ich bin ein Gewohnheitsmensch, und deshalb gehe ich immer in dasselbe Café. Es bietet mir mittlerweile eine vertraute Umgebung, eine nette, intellektuelle Atmosphäre und meinen Lieblingsplatz, eine schwarze Ledercouch, in die ich mich so schön hinein kuscheln kann, um darin die anderen Gäste zu beobachten oder ein Buch zu lesen.

In den letzten beiden Wochen sah ich schon öfter einen Mann ins Café kommen, der mich von Anfang an faszinierte. Er trug fast ausschließlich schwarze Klamotten. Normalerweise setzte er sich an irgendeinen freien Platz, meist weit weg von mir. Doch heute war das Café überraschend gut gefüllt und jeder Tisch belegt, und so sah er sich gezwungen, sich irgendwo dazu zu setzen. Seine Wahl fiel auf meinen, und er kam auf mich zu geschlendert und fragte höflich und leise: „Entschuldigung, ist hier noch frei?“

Ich nickte heftig, denn ich war plötzlich fürchterlich aufgeregt. So nah, wie er bei mir saß, hatte ich nun endlich Gelegenheit, ihn genauer zu mustern. Er bestellte sich einen Milchkaffee und eine Bitter Lemon, zog ein dickes Taschenbuch aus seiner schwarzen Umhängetasche, lehnte sich zurück und begann zu lesen. Ich blätterte alibimäßig in einer Zeitschrift, die im Café auslag, und warf dann und wann einen Blick über den Rand und beobachtete ihn.

Seine Haare waren offensichtlich gefärbt (schwarz, was sonst), auf seiner Nase thronte eine Intellektuellen-Brille und an den Fingern trug er mindestens sechs Silberringe. Er war mit seinen dunklen, fast schwarzen Augen in die Lektüre vertieft und nahm kaum wahr, als die Kellnerin seine Getränke brachte. Eine Stunde lang beobachtete ich ihn heimlich. Ab und zu zückte er ein Notizbuch und kritzelte mit einem Bleistift hinein, dann wieder griff er blind nach seiner Tasse und trank einen Schluck in lässiger Langsamkeit.

Sprich ihn an, dachte ich mir, aber dann zögerte ich doch. Ich hatte seit Jahren keinen fremden Mann mehr auf freier Wildbahn angesprochen. Normalerweise waren die Männer immer zu mir gekommen, und D. hatte mich immer eifersüchtig beobachtet und meine Unterhaltung mit anderen Männern frühzeitig unterbrochen. Doch er, wie er mir gegenüber saß und mich völlig ignorierte, mir keinen einzigen Blick zuwarf, nicht den geringsten Anlauf zu einem kleinen Flirt nahm, sondern einfach nur wie auf dem Präsentierteller dasaß, er machte mich fürchterlich neugierig.

Ich legte die Zeitschrift auf den Tisch und öffnete den Mund, aber die Kellnerin hatte sich bereits angeschlichen, und bevor mir noch das erste Wort über die Lippen kam, fragte sie: „Darf's noch was sein?“ Er blickte hoch und sah mich mit offenem Mund, und damit die Situation nicht noch peinlicher wurde, bestellte ich mir noch einen Cappuccino. Er schüttelte nur den Kopf und sagte: „Ich zahle.“ Als er daraufhin Anstalten machte, zu gehen, fehlte mir dann doch der Mut für einen zweiten Versuch. Er trank aus, zog sein Jackett an und ging grußlos aus dem Café. Und ich dumme Nuss saß noch weiter am Tisch, trank meinen Cappuccino, den ich eigentlich gar nicht wollte, und ärgerte mich bodenlos, diese Gelegenheit sausen zu lassen.




Samstag, 27. Oktober 2007
Gerade rief mich meine Schwester an. Normalerweise meldet sie sich nur alle paar Monate bei mir, um mich davon zu überzeugen, dass sie noch lebt. Doch der heutige Anruf war bereits ihr zweiter diese Woche. Es lag also etwas im Argen.

Ihr Freund fuhr heute zu seinen Eltern nach Hamburg. Soweit nicht schlimm, er ist ja nicht der erste, der in einer anderen Stadt studiert als der, in der er aufwuchs. Doch dieses Mal bleibt er nicht nur übers Wochenende, sondern er fährt für eine ganze Woche weg. Und B. ist bereits am ersten Tag völlig mit den Nerven am Ende.

„Jetzt stell dich doch nicht so an“, sage ich ihr, „er ist ja nicht das erste Mal in Hamburg.“ „Aber so lange“, jammerte sie durch die Leitung. „Er ist ja nicht aus der Welt“, erkläre ich ihr, „und du weißt doch: Ihr könnt doch jeden Tag miteinander telefonieren. Und chatten. Und Mails liest er auch.“ Ja, das sei ihr ja alles klar, meinte sie, aber trotzdem vermisse sie ihn ganz schrecklich. „Wie lange ist er schon weg? Sieben Stunden?“ Ich ahne fürchterliches gegen Ende der Woche auf mich zukommen.

Vor allem, weil mich diese Szene auch an mich selbst erinnert. Angst vor dem Alleinsein, die war unerträglich. Schlimmer noch als die Sehnsucht nach dem Freund. D. war nie länger als drei Tage am Stück weg gewesen, und er hatte sich kein einziges Mal von sich aus gemeldet. Kein „ich bin gut angekommen“, kein „ich fahr jetzt wieder los“. Ich hatte mich irgendwann daran gewöhnt, im Tal der Ahnungslosen zu leben.

Es war hart am Anfang, ich hatte ihn schrecklich vermisst, mir fürchterliche Sorgen um ihn gemacht. Aber je öfter ich nichts von ihm wusste, umso weniger machte ich mir Gedanken um ihn. Es würde schon nichts passiert sein. Man kann sich die Sorgen abgewöhnen lassen. Dazu brauche ich nur einen Mann, dem sie egal sind.




Freitag, 26. Oktober 2007
Schon wieder eine Arbeitswoche fast vorüber. Es waren ruhige Tage, und wenn ich an die Wochen zuvor denke, könnte ich meinen, es sei überhaupt nichts passiert.

Gestern lernte ich den Mann kennen, der im selben Stockwerk wohnt wie ich. Unsere Wohnungen sind vermutlich spiegelsymmetrisch aufgebaut. Seine ist auf der linken, meine auf der rechten Seite des Treppenhauses. Wir trafen uns, als ich gerade von der Arbeit nach Hause kam. Er verließ seine Wohnung und wartete höflich, bis ich den Treppe hinauf geschnauft war. Ich war so erledigt, dass ich mir noch nicht einmal seinen Namen merken konnte.

Wir unterhielten uns kurz über das Haus und die Wohnungen, über die lauten Nachbarn unter uns und den Putzdienst. Es stellte sich heraus, dass ich mit ihm im 14tägigen Wechsel den obersten Treppenabsatz zu wischen hatte. Letztes Wochenende sei ich dran gewesen, aber es mache überhaupt nichts, dass ich nichts davon gewusst hatte, meinte er. Es genüge eigentlich, wenn nur alle zwei Wochen gewischt würde. Ich könne das auch gerne ihm überlassen. Er mache das nämlich gar nicht selbst, sondern hatte seine Mutter dafür engagiert. Männer, dachte ich, nachdem ich wieder in der Wohnung war. Ich nahm mir vor, niemals schwanger zu werden. Es könnte ja ein Sohn werden.




Montag, 22. Oktober 2007
Da J. mit ihren Kolleginnen ins Kino ging, war S. heute Abend Strohwitwer. Statt sich zuhause zu langweilen, rief er mich an. „So als Single hast du doch sicher nichts vor heute.“ Für diesen Spruch hätte ich ihn am liebsten erwürgt. Doch die Aussicht, einen Abend mit ihm zu verbringen, besänftigte mich. Ich erwies ihm die Ehre einer Audienz in meiner Wohnung, und er versprach sogleich, eine Flasche Rotwein mitzubringen.

Es wurde ein entspannter und lustiger Abend. Da S. mit dem Wagen gekommen war, trank er nur ein Glas seines mitgebrachten Weins. Der Rest war damit für mich. Nach dem zweiten Glas, das er mir eifrig nachschenkte, glaubte ich schon, er wolle mich sturmreif tränken. Nach dem dritten war ich überzeugt davon. Nicht, dass er sonderlich große Gegenwehr hätte erwarten müssen, selbst wenn ich nüchtern gewesen wäre.

Doch dann nahm unsere Unterhaltung eine fatale Wendung. S. hatte gestern im Internet etwas ganz tolles entdeckt. „Blogs“, sagte er, wobei er das „g“ überbetonte. Das Blut gefror mir augenblicklich in den Adern, und ich starrte ihn entgeistert an. „Da sitzen so'n paar Typen vorm Rechner und schreiben Tagebuch. Und jeder kann's lesen.“ „Aha“, sagte ich. Was hätte ich sonst auch sagen sollen? Ich konnte ihm ja nicht verraten, das sei alles kalter Kaffee und seit ein paar Wochen bloggte ich selbst.

Egal, wie anonym hier alles zugeht, für einen Insider genügt ein flüchtiger Blick über meine Texte um zu wissen, wer ich bin. Aber wie groß ist schon die Chance, in der Unmasse an Blogs das meinige zu entdecken? Eins zu einer Million?

Während er begeistert weiter erzählte, achtete ich nur noch darauf, ob sich zwischen seinen Worten Anspielungen auf etwas befand, was ich hier geschrieben hatte. War das eben nicht ein süffisantes Grinsen? Aber so sehr ich ihn auch beobachtete, entweder war ein ein grandioser Schauspieler, oder er hatte mich wirklich noch nicht entdeckt.

Die Lust auf Wein und eine potentielle Verführung war mir jedenfalls vergangen. Als S. ging, ließ er die Flasche stehen und meinte nur: „Du hast sicher noch Verwendung dafür.“ Er verabschiedete sich so herzlich und unverfänglich wie immer. Und als ich die Tür hinter ihm schloss, war mein erster Gedanke, dieses Blog sofort zu löschen.

Doch neben der Angst vor einer Entdeckung fühle ich auch eine merkwürdige Lust am Risiko. No pain, no gain, sagte meine BWL-Dozentin immer, wenn wir Studenten uns vor einer riskanten Entscheidung drücken wollten. Ich denke, ich muss hier nichts löschen. Das Risiko ist gering. Und sollte S. mich doch einmal hier entdecken, wird er es sicher mit Humor nehmen.




Es ist ein kalter, regnerischer Tag. Und obwohl die Heizkörper die Temperatur in gemütlichen Regionen hält, laufe ich fröstelnd und mit einer Gänsehaut überzogen durch die Wohnung. Die Stimmung ist an ihrem Tiefpunkt angekommen, und so greife ich zum Allheilmittel und nehme ein heißes Bad. Eine halbe Stunde später liege ich dampfend und mit einem Buch und einer Schüssel Kekse versorgt wieder im Bett. Doch die Idylle wird jäh durch lautes Geschrei aus dem Treppenhaus gestört.

Ein Stockwerk tiefer und auf der anderen Seite wohnt eine junge Familie. Der Mann, ein Schwarzer von der Statur eines Football-Spielers, kam mir bisher nur zweimal vor Augen. Er scheint nur unregelmäßig zuhause zu sein, und wenn, dann hört man ihn mehr als man ihn sieht. Seine Frau, eine kleine, dickliche Brünette mit rundem Gesicht und langem, lockigen Haar, sehe ich fast jeden Morgen mit ihrem Sohn (vielleicht zwei Jahre alt) auf dem Weg zur Arbeit. Obwohl ich sie jedesmal freundlich grüßte, erhielt ich von ihr nie mehr als ein „Hallo“ in einem Ton, in dem man jemandem seine Verachtung ausdrückt.

Ich konnte im Lauf der Woche die beiden des öfteren streiten hören. Und auch heute sind sie für den Lärm im Treppenhaus verantwortlich. Ich stehe ein paar Minuten am Eingang und presse mein Ohr an die Wohnungstür, doch die Akustik reicht nicht aus, um mehr zu verstehen, als dass es um seine Rechte und Pflichten als Familienvater geht. Mit dem heulenden Gebrüll ihres Sohnes streiten die beiden an der offenen Wohnungstür über unbezahlte Rechnungen und irgendetwas anderes, das ich nicht entziffern kann. Schließlich knallt eine Tür und der Spuk ist beendet.

Zurück auf meinem Bett setze ich die Kopfhörer auf und lausche den melancholischen Melodien von Interpol. Interpol ist eine von D.'s Lieblingsbands, und unvermeidlich denke ich an die drei Tage, die wir vor fünf Jahren gemeinsam in Leipzig verbrachten. Er hatte sich gerade das aktuelle Album gekauft, und wir hörten es rauf und runter, stundenlang. Ich war glücklich, obwohl mich die Lieder eher zum Weinen brachten. Eine Schnur legt sich um mein Herz und zieht sich langsam zusammen, wenn ich daran denke. Und ich spüre, wie eine Träne an meiner Wange herunterläuft.




Samstag, 20. Oktober 2007
Wer berufstätig ist, geht samstags einkaufen. Und da ziemlich viele berufstätig sind, ist samstags gewöhnlich in den Geschäften viel los. Normalerweise versuche ich an diesen Tagen, die Einkauferei tunlichst zu vermeiden. Ich mag die Hektik und das Gedränge nicht, fühle mich bei der Auswahl der Waren von den hinter mir stehenden genötigt.

Doch bevor ich zuhause vereinsame, entschloss ich mich heute zu einem Stadtbummel. Ich wartete bis zum Nachmittag, wo ich mir besonders viel Hektik und Trubel versprach. Kurz: Ich wollte so viel Leben wie möglich um mich herum haben. Also zog ich kurz nach Mittag meinen Mantel (es ist schon derbe kalt, da draußen) an, und ging zu Fuß in die Innenstadt, um mich in die Menge zu werfen.

Da ich bereits gestern alles fürs Wochenende eingekauft hatte, konnte ich mir alle Zeit der Welt nehmen. Als erstes spazierte ich in ein größeres Kaufhaus und ließ mich einfach vom Strom der Einkaufenden bis zur Rolltreppe treiben. Auf dieser fuhr ich vier Stockwerke nach oben, wechselte die Seite und fuhr die selben vier Stockwerke wieder nach unten. Einen Augenblick später hatte mich der Strom durchs Erdgeschoss wieder zur Tür hinaus geschwemmt.

Da mir das viel zu schnell ging, versuchte ich es als nächstes im Einkaufszentrum wenige Straßen weiter. Hier war deutlich mehr los als im Kaufhaus. Eine riesige Drehtür führte ins Innere, doch sie war abgebaut, um die Massen ungehindert in die Promenade zu schleusen. Statt der Tür hinderte aber eine Gruppe von etwa sieben junger Menschen den Massen am Ein- und Ausgehen, indem sie mitten im Durchgang standen und sich unterhielten. Sehr zum lautstarken Ärgernis der Leute, die ins Zentrum hinein wollten und sich nun statt nebeneinander eben hintereinander an der Gruppe vorbei zwängen mussten.

Im Zentrum spazierte ich gemütlich von Schaufenster zu Schaufenster. Was darin ausgestellt war, nahm ich kaum wahr, denn ich konzentrierte mich ganz auf die Menschen um mich herum. Sie überholten mich, rempelten mich an, versperrten mir den Weg, doch ich nahm das alles gelassen auf, denn ich hatte ja eigentlich gar nichts zu erledigen.

Vor der Rolltreppe entdeckte ich einen Mann in seinen späten Fünfzigern, der einen schmutzig-weißen Hund an der Leine führte. Bevor er seinen Fuß auf die Rolltreppe setzte, nahm er den Köter auf den Arm. Er schien allein unterwegs zu sein. In seinen Händen sah ich keine Taschen oder Beutel. Wie hätte er sie auch tragen können, wenn er auf jeder Rolltreppe seinen Hund auf den Arm nehmen musste?

Während ich noch grübelte, ob der Mann wohl wie ich nur unter die Leute gehen wollte, fuhr mir eine Frau im Rollstuhl, der ich wenige Sekunden zuvor noch durch einen Schritt zur Seite Platz gemacht hatte, gegen das Schienbein. Sie fuhr anschließend weiter, als sei nichts gewesen, und ich schwor mir, auf Gehbehinderte in Zukunft auch keine Rücksicht mehr zu nehmen.

Nach einer knappen Stunde Bummeln nahm ich die Pärchen deutlicher wahr, die den Samstag zum gemeinsamen Einkaufen nutzten. Ich konnte den Trubel und die Hektik durchaus ertragen, aber ständig das Geknutsche und Hand-in-Hand-Laufen vor den Augen zu haben, war irgendwann zu viel.

Ich verließ das Einkaufszentrum und ging einige Straßenzüge weiter durch die Fußgängerzone. Nachdem ich einem aus voller Brust lamentierenden Betrunkenen und einer Polizei-Razzia ausgewichen war, fand ich noch einen Platz im Café, in dem ich seit einer knappen Woche fast jeden Nachmittag meinen Feierabend genieße.

Der Trubel verfolgte mich selbst bis hierhin, und es dauerte eine halbe Stunde, bis mich die Bedienung überhaupt wahrnahm. Nach einer weiteren halben Stunde stand auch endlich mein Milchkaffee vor mir. Nachdem ich diesen getrunken hatte, reichte es mir aber auch mit Trubel und Hektik, und ich ging nicht unzufrieden nach Hause.




Eigentlich hatte ich diesen Beitrag schon gestern geschrieben, aber just als ich ihn veröffentlichen wollte, machte mir mein Provider einen Strich durch die Rechnung und klemmte mich für eine Nacht vom Internet ab. Ich entschied mich, lieber ein kleines Vorwort zu schreiben, als den ganzen Beitrag von „heute“ auf „gestern“ umzuschreiben.

Freitag Abend. Ich sitze zuhause, wie die allermeisten Freitage seit vier oder fünf Jahren. Verschlechtert hat sich also nichts. Nur sehe ich heute wieder neidvoll auf diejenigen, die ihr Wochenende gemeinsam genießen. Melancholisch klingt die Musik aus den Lautsprechern, während ich die Freunde zähle, die ich verloren habe. Es sind viele. Und nur wenige, die ich gewonnen habe.

Es wurde langsam dunkel, als ich mit einer Stofftasche voller Flaschen und Gläschen zum Altglas-Container ging. Nachdem ich die ersten Flaschen vorsichtig (ich mag das Geräusch klirrender Scherben selbst nicht, schon gar nicht, wenn es den Innenraum eines fast leeren Containers als Klangkörper nutzt) hineingeworfen hatte, öffnete sich ein Fenster im nebenstehenden Haus. Ein älterer Mann streckte den Kopf heraus, zog die Mundwinkel herunter und rief mit krähender Stimme: „Haben Sie noch nie was von Ruhezeiten gehört?“

Ich war perplex. Verunsichert suchte ich mit den Augen die Oberfläche des Containers ab, bis ich den Aufkleber fand, der mir bestätigte: Nach 21 Uhr nicht! Es war weit vor 21 Uhr. Ich hob den Kopf und fragte, was das soll. „Da steht, bis 21 Uhr ...“ Der Mann kläffte zurück. „Mir egal, was da steht. Es ist jetzt Ruhezeit! Machen Sie den Scheiß gefälligst am Tag.“ Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich hatte mir wohl den Container vor dem einzigen Haus im ganzen Studentenviertel ausgesucht, in dem die älteren Semester lebten.

Ich konnte fühlen, wie meine Augen vor Wut funkelten. In meinem Alter zählt man zum arbeitenden Teil der Bevölkerung, und der hat tagsüber nunmal anderes zu tun, als sich um sein Altglas zu kümmern. „Wenn ich mal Renterin bin“, fauchte ich zurück. Ich nahm die nächste Flasche und feuerte sie mit Schwung in den Container. Klirr. Das Fenster schloss sich, aber ich war mir sicher, dass der Mann das Klirren hören konnte. Klirr. Und für jeden Cent seiner Rente gab ich mir beim Hineinfeuern besondere Mühe.

Es war ein kalter Tag heute. Am Morgen bereits schlotterten mir die Beine im Badezimmer. Die Wohnung hatte sich keinen Deut erwärmt, als ich nach Feierabend nach Hause kam. Also entschloss ich mich, mal nicht so geizig zu sein und die Heizung aufzudrehen.

Nach einer halben Stunde waren die Heizkörper noch immer kalt. Mein erster Gedanke war, Papa anzurufen, denn Papa kennt sich mit allem aus, was Rohre hat. Doch ich ließ es sein, denn bei einem Anruf hätte ich als erstes Mama am Apparat gehabt, und für ihre Vorwürfe, die sie mir bei jedem Telefonat entgegenwirft, fehlten mir die Nerven.

Also rief ich meinen Ritter an. „Hast du die Heizkörper entlüftet?“, fragte S. „Ent-was?“ Ich nahm ein leises, verzweifeltes „Ohje“ am anderen Ende der Leitung wahr. Früher hatte sich D. um alles handwerkliche gekümmert, und wenn irgendetwas nicht funktionierte, hatte ich ihn alarmiert, und er hatte es gerichtet.

S. versuchte mir am Telefon zu erklären, wie ich einen Heizkörper entlüften solle. Das war mir alles zu viel Gefummel, also stellte ich mich auf begriffsstutzig, und schließlich willigte S. ein, mit einem Entlüftungsgerät vorbeizukommen und sich um meine Heizkörper zu kümmern. Damit war ich an diesem Freitag Abend nicht ganz so allein. Zum Dank drückte ich ihm später einen dicken Kuss auf die Wange. Damit lässt er sich gerne bezirzen. Der gute Ritter S.




Donnerstag, 18. Oktober 2007
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, nicht gleich nach der Arbeit den Drang zu verspüren, nach Hause zu gehen. Trieb mich am ersten Tag noch das gewohnte Pflichtgefühl in die heimischen Gefilde, genoss ich gestern und heute meine neu gewonnene Freiheit und blieb nach Verlassen des Büros noch ein wenig in der Innenstadt. Ein kleiner Stadtbummel, ein paar unwichtige Kleinigkeiten kaufen, und mich schließlich eine Stunde in ein Café setzen und zu einem Grand Crème ein Buch lesen. Und die anderen Gäste beobachten.

Es ist noch ungewohnt, das alles. Es erscheint mir ewig lange her zu sein, als ich das letzte Mal allein in einem Café saß. So lange, dass ich mich gar nicht daran erinnern kann. Noch weiß ich mit meiner Freizeit nicht so recht etwas anzufangen. Irgendetwas drängt mich nach Hause, doch dort herrscht nur Leere. Ich habe mich schon einige Male beim Führen von Selbstgesprächen erwischt. Doch langsam, ganz langsam fühle ich mich lebendig.